Der Ernstfall der Nächstenliebe

Mit keinem Menschen bin ich so lange und so intensiv zusammen wie mit mir selbst. Niemand leidet so
sehr darunter, dass ich ihn schlecht behandle, als ich selbst. Niemand ist mir so sehr ausgeliefert wie ich mir selber. Keiner ist mir so nah wie ich mir selber. Keiner spürt so schnell und unmittelbar die Wirkungen einer schlechten oder guten Behandlung, einer schlechten oder guten Gewohnheit wie ich selber.

Wenn all dies wahr ist – und wer wollte es bezweifeln? – dann ist die Beziehung zu sich selber der
Ernstfall der Nächstenliebe. Sich selbst der Nächste sein, das ist eine schlichte Tatsache: eine Beziehung, die ich nicht leugnen kann.

Dass ich mir selbst der Nächste bin, ist Schicksal.

Wie ich jedoch mir selbst der Nächste bin, das ist der Bereich meiner Wahl, mein Gestaltungsspielraum.
Wenn die Beziehung zu mir selber glückt, dann hat sie die Kraft, auf alles andere auszustrahlen: Ich lebe nicht im Zwiespalt, in einem dauernden Kampf mit mir, nicht in Minderwertigkeitsgefühlen, noch in
Selbstüberschätzung, sondern ich bin mit mir im Reinen. Selbst wenn ich mich für die eine oder andere
Mutlosigkeit, Bequemlichkeit, Unwahrheit oder was auch immer schäme, sie mir vorwerfe oder bedaure
– die Grundtönung meiner Beziehung zu mir selber ist Jasagen, Einverständnis und Selbst‐Annahme.
Ich bin okay trotz allem, was im Einzelnen betrachtet (noch) nicht okay ist. Ich nehme mich an so wie ich bin, auch als eine keineswegs bereits abgeschlossene Aufgabe. Selbstachtung schließt also Selbstkritik nicht aus, sondern im Gegenteil ein. Sie anerkennt, dass ich noch nicht fertig, noch in Entwicklung bin.

Das ganze Universum entwickelt sich noch. Wie sollte ich da eine Ausnahme bilden? Ich habe die
Chance, Neues dazu zu lernen und Altes gründlich zu verlernen. Ich habe das Recht darauf, an meiner
Form zu arbeiten. Sogenannte „Fehler“ sind also Gelegenheiten, mein Entwicklungspotential zu achten
und mich mit einer besseren Form zu überraschen.

Auf keinen Menschen habe ich einen solch großen Einfluss wie auf mich selbst. In Bezug auf mich selber
sitze ich ständig an der Quelle. Jeder Augenblick ist ein neue Chance, gut zu mir selbst zu sein.

Aus: Seminarhaus Schmiede

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